Menschliche Menschen werden

von Superintendent Michael Krause

Gott spricht: Ich schenke euch ein neues Herz und lege einen neuen Geist in euch. (Ez 36,36) - Jahreslosung 2017

Bei der Vorbereitung auf das Reformationsjubiläum und der Erinnerung an das Wirken Martin Luthers werden die Gedanken immer wieder auch auf Martin Luther King geführt, den baptistischen Theologen und herausragenden Repräsentanten der Bürgerrechtsbewegung in den Vereinigten Staaten. Für viele ist King die wirkmächtigste Verkörperung Luthers in der Gegenwart.

Ursprünglich wurde King mit Vornamen „Mike“ genannt. Später erst – als er fünf, sechs Jahre alt war – erscheint in den Dokumenten der Name „Martin Luther“. Sein Vater hatte im Sommer 1934 im Zusammenhang der Weltkonferenz der Baptisten in Berlin die Stätten der Reformation bereist und war offenbar beeindruckt vom Reformator. Martin Luther King wird später sagen, er sei stolz, nach dem großen Reformator benannt worden zu sein. Bei einer Predigt in Ost-Berlin im September 1964 schildert er die Entwicklung der Bürgerrechtsbewegung als große Befreiung. Die einzige Erklärung für den Erfolg, sagt Martin Luther King, kann sein, „dass wir von Gott in einem heiligen ‚kairos‘ (kairos = günstiger Zeitpunkt zur Entscheidung, M.K.) ergriffen wurden. Unsere einzige Antwort konnte die von Martin Luther sein: ‚Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Gott helfe mir.‘ Und so begann unsere Bewegung. Nicht durch Planungen der Menschen, sondern durch die mächtigen Taten Gottes.“

Der baptistische Pastor zieht also Parallelen zum Reformator Luther, die über die Namensgleichheit hinausgehen. Die spannende Frage, die sich daraus ergibt: Wie verhielten sich denn die lutherischen Christen zur Bürgerrechtsbewegung, die von Martin Luther King repräsentiert wurde? Die wenigen lutherischen Gemeinden in den Südstaaten der USA waren eher von der Rassentrennung geprägt. Es gab nur wenige lutherische Pastoren, die sich aktiv in der Bewegung für die Gleichberechtigung für Afro-Amerikaner engagierten. Ihr Verhalten wurde den Vorgesetzten harsch kritisiert. Man betonte, dass diese Pastoren nicht im offiziellen Auftrag der Kirche handelten.

In diesem Zusammenhang ist eine Begebenheit überliefert, die mich bestürzt sein ließ, als ich davon las: Am 15. September 1963 haben Mitglieder des KuKluxKlan durch ein Bombenattentat vier schwarze Mädchen getötet während eines Jugendgottesdienstes in der 16th Baptist Church in Birmingham, Alamaba. Der Vater eines der Mädchen bat den lutherischen Pastor Ellwanger, zu dessen Gemeinde er gehörte, eine biblische Lesung im Trauergottesdienst zu übernehmen. Als der Präsident der lutherischen Synode das erfuhr, versuchte er den Pastor davon abzuhalten, mit dem Argument: „Wenn sie mit diesen baptistischen Pastoren zusammen diesen Gottesdienst halten, machen Sie sich des Unionismus schuldig.“ Unionismus, das war der Vorwurf, das eigene lutherische Bekenntnis nicht ernst genug zu nehmen. Zu der Zeit machte man mit den Baptisten keine gemeinsame Sache.

Bestürzend, dass die Bekenntnisfrage in diesem Fall als höher stehend angesehen wird als Seelsorge, als Anteilnahme, als Solidarität, als Menschlichkeit! Der Pastor war vom Vater gebeten worden, seine ureigene Sache zu tun, nämlich in einem Gottesdienst Gottes Wort weiterzusagen, und soll mit – vielleicht auch nur vorgeschobener – konfessioneller Positionierung daran gehindert werden.

Das ist altes Herz, das ist alter Geist! So alt, dass die, die dieses Herz in sich tragen, den Kairos nicht sahen. So steinern, dass sie nicht sehen wollten, welche Tür hier Gott aufgestoßen hatte. So hart, dass sie nicht bekennen konnten: Jetzt ist die Zeit da, um für die Gleichberechtigung der Menschen einzutreten.

Die Erkenntnis ist nicht von der Hand zu weisen: Die Kirche selbst kann blind sein für die mächtigen Taten Gottes. Sie kann blind sein, für das, was nach Gottes Willen „dran“ ist. So hat es Luther erlebt mit der Kirche seiner Zeit, so ist es zu den Zeiten Martin Luther Kings gewesen bei denen, die sich lutherisch nennen, so kann es uns Heutigen auch passieren.

Wir dürfen uns nicht überheben, denn auch wir sind nicht gefeit vor „blinden Flecken“. Auch in der Kirche kann Menschlichkeit auf der Strecke bleiben. Durch starre Regeln, durch rigoristische Setzungen, durch zorniges Beharren auf dem, von dem man meint, es sei die Wahrheit.

Das Wort aus Ezechiel 36 entfaltet in diesem Zusammenhang orientierende Kraft. Indem ein neues Herz versprochen wird, wird klar, dass wir ein altes Herz haben. Und es wird deutlich, dass wir von uns aus von diesem alten Herz nicht loskommen. Wir sind in der Sicht des Propheten darin regelrecht gefangen. Wir kommen nicht heraus, es sei denn, Gott selbst öffnet die Tür. Wir sind angewiesen auf das neue Herz von Gott, auf sein Geschenk des neuen Geistes.

Der Prophet hat mit seiner Rede von Herz und Geist eine innere Erneuerung eines jeden Menschen vor Augen. Das Lebenszentrum ist gemeint. Das, was uns Menschen ausmacht. Ein theologischer Kommentar zur Stelle spricht von der „Vermenschlichung des Menschen“.

Ein Mensch ist gemeint, der mit Gott, mit seinem Nächsten und mit sich selbst in einem guten Kontakt ist. Wie es im Doppelgebot der Liebe beschrieben ist: Gott lieben und seinen Nächsten lieben wie sich selbst.

Von innen her geschieht es und dringt von dort nach außen. Die Augen werden aufgetan. Und wenn der Kairos sich naht, dann sehen die Augen auch diese günstige Gelegenheit, sie sehen das, was von Gott her gewollt ist.

Dann kommt es zum wahren Bekennen. Wie bei Martin Luther King und seinem Einsatz für Gerechtigkeit.

 Nun ist unsere Erkenntnis immer bruchstückhaft. Wir können mit unseren Deutungen auch irren. Ist das nun ein Kairos, der aus Gottes mächtigem Handeln stammt oder nicht? Diese Frage bleibt. Mit letzter Sicherheit werden wird sie nicht beantworten können. Und doch gibt es Hinweise, in welche Richtung Gottes Handeln zielt. Es läuft auf die Befreiung zu. Bei Martin Luther sehen wir eine Befreiung von der Bevormundung des Gewissen. Bei Martin Luther King und seiner Bewegung erkennen wir eine Befreiung von sozialer Ungerechtigkeit. Beides liegt in der Linie des Exodus-Gottes: „Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe“(Ex 20,2). Den mächtigen Taten Gottes, von denen Martin Luther King spricht, ist Freiheit eingezeichnet.

Unter der Verheißung des neuen Herzens und des neuen Geistes spüren wir, wie hart unser altes Herz und wie ausgelaugt unser Geist ist. Die beiden Luther sind erkennbar schon vom Herzschlag des Neuen bewegt gewesen. Ob wir es ihnen gleich tun können? Wir können zumindest darum bitten, dass Gott uns schenkt, was er versprochen hat: „Schaffe in mir Gott, ein reines Herz und gib mir einen neuen, beständigen Geist“(Psalm 51,12).

Michael Krause, Superintendent des Ev. Kirchenkreises Herford

(Die Zitate von Martin Luther King und die Schilderungen zu ihm sind einem Aufsatz entnommen, der im Dezember 2016 in der Zeitschrift „Pastoraltheologie“ erschienen ist: Heinrich Grosse, Absolute Gewissensbindung und mutige Unangepasstheit. Was Martin Luther King und Martin Luther bei aller Verschiedenheit verbindet, in: Pastoraltheologie 105 Jg., S. 500-519.)

Andachten 2017

JanuarMichael KrauseMenschliche Menschen werden
FebruarRuth WesselsBitte recht freundlich
MärzAxel BruningSchulden gestrichen
AprilDr. Kai-Uwe SpanhoferKein Weg zurück
MaiHolger KasfeldDer Sonntag - ein Geschenk des Himmels
JuniEva-Maria SchnarreDu siehst mich
JuliVolker KükenshönerAufbruch und Begeisterung
AugustHanno PaulAlte Eltern ehren
SeptemberGabriele Steinmeier„Nicht die Glücklichen sind dankbar. Es sind die Dankbaren, die glücklich sind.“
OktoberUta BültermannMuss man Danke sagen?
NovemberMarkus FachnerReformation braucht Mut
Dezember Claudia GüntherAnkunft im Leben