Wenn die Lieblingstasse plötzlich eine Macke hat oder die morgendliche Müslischüssel auf den Boden fällt, ärgern sich die meisten von uns. Die Scherben wieder zusammenfügen – viel zu viel Arbeit und am Ende bleibt es ja eine unperfekte Schale. Die Macke abschmirgeln und mit goldenem Lack überziehen – was für eine kuriose Idee. In Japan hingegen werden mit einer einzigartigen Reparaturtechnik seit dem 15. Jh. zerbrochene Gegenstände genauso wieder zusammengefügt. Das Besondere – es geht nicht darum, die Brücher unsichtbar zu machen. Im Gegenteil. Die Bruchstellen werden mit Gold nachgezeichnet und dadurch auf wundervolle Weise hervorgehoben. So wird eine Teeschale, eine Tasse nicht einfach nur geflickt, nein, ihre Risse werden vergoldet! Die Philosophie, die hinter dieser Handwerkskunst steht, ist Heilung und Widerstandkraft sichtbar zu machen. Die Vergangenheit eines Objektes wird wertgeschätzt und am Ende ist das Zerbrochene noch robuster, wertvoller und schöner als vorher.
Diese Kunst nennt sich ‚Kintsugi‘ und setzt sich aus den Worten ‚kin‘ (Gold) und ‚tsugi‘ (Verbindung) zusammen, meint also wörtlich ‚Goldverbindung‘. Die Kunst des ‚Kintsugi‘ nennt man ‚kintsukuroi‘ was etwa so viel wie ‚Goldreparatur‘ heißt. Der Herstellungsprozess ist aufwendig. Es erfordert viel Geduld, große Sorgfalt und Zeit. Manche Goldreparatur dauert Wochen oder Monate. Manchmal sogar ein Jahr, damit das Kintsugi-Stück wirklich gelingt. Die Scherben werden geordnet, gesäubert, mit einer ersten Lackschicht überzogen. Dann wartet man bis alles getrocknet ist und schmiergelt die Kanten und Brüche noch einmal glatt. Die Risse werden mit mehreren Lackschichten gefüllt über die Goldstaub gestreut wird. Das Metall vermischt sich mit dem noch feuchten Lack und es entstehen die typischen, markanten Kintsugi-Adern – goldfarben glänzend. Ein letzter Schritt, nochmal abschmirgeln, vorsichtig und dann erstrahlt das Objekt neu.
Was wäre, wenn wir mit unseren Wunden und Brüchen im Leben ganz genauso umgingen? Wenn wir unsere Vergangenheit nicht überspielen, vertuschen, sondern vielmehr unsere Narben und die damit verbundenen Erfahrungen von Wut, Trauer, Schmerz und ja auch Heilung vergolden würden? Keine unsichtbaren Narben mehr, sondern goldene Narben, die auch Beweis dafür sind, dass wir Krisen überwunden haben. Uns zurück gekämpft haben ins Leben – gezeichnet, aber immer noch da. Zerbrochen, aber wieder zusammengefügt, und zwar für alle sichtbar – weil wir die Risse nicht überdecken, sondern vergolden. Vielleicht sogar wertvoller und robuster als zuvor. Definitiv einzigartig, denn unsere goldenen Narben glänzen anders als die meiner Nächsten.
In den Psalmen heißt es von Gott: Gott heilt die gebrochenen Herzen und verbindet offene Wunden (vgl. Ps 147, 3). Gott ist nahe bei den Menschen, die im Herzen verzweifelt sind und hilft denen, die ihren Lebensmut verloren haben (vgl. Ps 34,19). Vor Gott sind wir alle gleich, von Gott ins Leben gerufen, wundervoll gemacht. Im Prozess des Lebens aber erleiden wir Risse, manchmal zerbrechen wir sogar.
Mitten in der Krise spürt man Gott nicht immer, Worte können da oft nicht trösten. Aber wenn ich mir Zeit nehme zu heilen und nicht daran arbeite, das Erlebte zu vertuschen, sondern vielmehr voller Geduld und Sorgfalt meine Narben vergolde, dann spüre ich irgendwann auch wieder, was es meint, dass Gott zerbrochene Herzen heilt. Dann heile ich und spüre, wie ich wieder zusammengefügt werde, mich selbst zusammenfüge und ja nicht hässlicher und weniger wertvoll aus diesem Erleben hervorgehe, sondern weiterhin wunderbar gemacht und von Gott geliebt bin.
Ich weiß, es ist gar nicht so leicht, seine Narben zu vergolden und sichtbar für alle zu tragen. Dazu gehört Mut und Geduld und Vertrauen. All das wünsche ich Ihnen und Segen dazu. Vergolden Sie Ihre Bruchstellen im Leben und lassen Sie uns dieses goldene Leuchten in die Welt tragen. Amen.
Pfarrer Dr. Holger Pyka hat auf seinem Blog eine Einheit für Konfirmand*innen geteilt, in der er mit einer vereinfachten Form von ‚Kintsugi‘ arbeitet. Vielleicht haben Sie ja Lust, es selbst einmal auszuprobieren.
https://kirchengeschichten.blogspot.com/2016/09/v-behaviorurldefaultvmlo.html (Stand: 18.8.2020)
Ein faszinierendes Buch zum Thema: Céline Santini: Kintsugi. L´art de la résilience. Paris 2018. Aus dem Französischen übersetzt von Ursula Held im Kailash Verlag München (2018).
Januar | Michael Krause | |
Februar | Hanno Paul | Gottesbilder |
März | Ann-Kristin Schneider | „Wachet!” |
April | Christian Wellensiek | Vertrauen trainieren in der Krise |
Mai | Axel Bruning | Sorget, aber sorget nicht zuviel ! |
Juni | Bettina Fachner | Pfingsten – Gott gibt seinen Geist |
Juli | Anna-Lena Strakeljahn | Stabile Verbindung |
August | Christoph Harder | Derek Redmond |
September | Annina Ligniez | Die Schönheit des Nichtperfekten |
Oktober | Katja Okun-Wilmer | „Einigkeit und Recht und Freiheit“ |
November | Reinhard Linke | Die zunehmenden Coronazahlen versetzen viele Menschen in Sorge und Ängste. |
Dezember | Ruth Wessels | „Unser Gott kommt und schweigt nicht“ |
Januar | Michael Krause | |
Februar | Volker Kükenshöner | Schraube locker |
März | Matthias Gleibe | Die große Hoffnung |
April | Michael Heß | Meine alte Bibel |
Mai | Kai-Uwe Spanhofer | Mal ehrlich |
Juni | Katja Okun-Wilmer | Was für ein Vertrauen! |
Juli | Sebastian Stussig | Unerhört |
August | Rainer Wilmer | Braucht die Nächste ein Gesicht? |
September | Holger Kasfeld | Vertrauen hat eine eigene Qualität |
Oktober | Bettina Fachner | Brot ist Leben |
November | Petra Ottensmeyer | |
Dezember | Michael Heß | Wo ist der Ochse? |